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Fall Nr. 34 & 35
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Klinischer Kommentar

Fall Nr. 34

    Heilkunde für eine Verschiebung an seinem Schlüsselbein:

    Wenn Du untersuchst einen Mann mit einer Verschiebung seines Schlüsselbeins, Du findest seine beiden Schultern herabhängend, der Kopf seines Schlüsselbeins nähert sich seinem Gesicht.

    Dann mußt Du dazu sagen: Einer mit einer Verschiebung seines Schlüsselbeins; eine Krankheit, die ich behandele.

    Dann mögest Du es fallen lassen, so daß es (wieder) liegt an seiner Stelle. Dann sollst Du verbinden ihn mit einem Polster aus Stoff. Du mögest ihn anschließend behandeln mit Öl/Fett und Honig jeden Tag, bis es ihm besser geht.

    Wenn Du aber sein Schlüsselbein findest, indem [eine Wunde] aufgebrochen ist darüber, die aufgeweicht ist bis ins Innere; eine Krankheit, die man nicht  behandeln kann.

    A) Was betrifft eine Verschiebung an seinen beiden Schlüsselbeinen: Das bedeutet, gelöst/gelockert sind die Köpfe des Sichelbeins. – (Zur Erinnerung:) Es sind befestigt ihre Köpfe an dem Knochen oberhalb seiner Brust, der bis zur Kehle reicht. Es befindet sich das Fleisch seiner Schlüsselbeinregion darüber. Das ist das Fleisch, das sich über seiner vorderen Halsregion befindet. Zwei Gefäße sind unter ihr, (jeweils) eines zur rechten und zur linken Seite seiner Kehle und seiner vorderen Halsregion. Sie geben (die Luft) an seine Lunge.

     

In Fall Nr. 34 wird offensichtlich die seltene Luxation im Sternoclavicular-Gelenk beschrieben. Das ägyptische Wort für Schlüsselbein liegt zwar in der Dualform (wechselnd mit einem oder zwei Determinativen) vor; hier wurde jedoch ausschließlich als Singular übersetzt, da sicher nicht von einer beidseitigen Luxation auszugehen ist. Das “Sichelbein” scheint ein Synonym für das Schlüsselbein zu sein.
Lediglich in der zweiten Diagnose bleibt letzlich die Frage ungeklärt, wie man sich die Entstehung der Wunde über der Luxation erklären soll: Sekundär als Durchbruch des abgerundeten Schlüsselbeinkopfes durch die Hautschichten, was eine enorme Krafteinwirkungg erfordern und somit schwerste Begleitverletzungen hervorrufen würde? Oder eine direkte Gewalteinwirkung, die primär, also gleichzeitig Luxation und Wunde hervorrief und damit ebenfalls weitere Kollateralschäden bedingt haben dürfte? Das Verdikt “eine Krankheit, die ich behandele” dürfte unter diesen Umständen und unter zusätzlicher Beachtung der infektiösen Komplikationen sicher falsch sein; in Zusammenschau mit Fall Nr. 37 wird hier “eine Krankheit, die man nicht behandeln kann” zu setzen sein.

 

Anatomie: Die anatomischen Beziehungen in der Jugularregion sind in der Glosse zutreffend erkannt und beschrieben.

Ursachen für die Sternoclavicular-Luxation sind heutzutage meist Verkehrsunfälle (ca. 50%), Sportverletzungen (ca. 25%, häufig Kampfsportarten) und Stürze auf die Schulter (ca. 20%). Im Alten Ägypten dürften Kriegsverwundungen und Arbeitsunfälle führend gewesen sein.
Es handelt sich in der Regel um indirekte Gewalteinwirkungen durch einen sehr harten Schlag gegen oder Sturz auf die Schulter, welche dabei zusätzlich nach ventral oder dorsal verdreht wird. Hierdurch erhöht sich der Stress auf das Sternoclavicular-Gelenk derart, daß es zur Luxation
(durch den Zug des M. sternocleidomastoideus meist nach vorn oben = Luxatio sternoclavicularis anterior) kommt. Durch direkte Gewalteinwirkung auf das Gelenk kann der Schlüsselbeinkopf auch hinter das Brustbein verlagert werden (Luxatio sternoclavicularis posterior). Diese kann zu lebensbedrohlichen Verletzungen von Lunge, Herz, Luft-/Speiseröhre und großen Gefäßen führen.

Diagnostik: Der Verletzte weiß bei einer anterioren Luxation meist sofort, daß sein Gelenk ”ausgekugelt” ist. Untrügbare Anzeichen hierfür sind nach einem typischen Unfallmechanismus insbesondere der plötzliche, überaus heftige Schmerz im Gelenkbereich, die sichtbare und tastbare Dislokation des Schlüsselbeinkopfes nach vorn oben (Abb. links) sowie die Bewegungseinschränkung im Schultergürtel.
Bei einer posterioren Luxation muß die Verschiebung allerdings nicht sicht- oder tastbar sein; hier bringt meist erst eine Röntgen- oder CT-Untersuchung (Abb. rechts) Sicherheit.

Therapie: Bei einer Luxation ist in der Regel ein konservatives Vorgehen mit einer geschlossenen Reposition in Allgemeinanästhesie und anschließender Ruhigstellung ausreichend. Der Patient wird in Rückenlage mit einem Sandsack zwischen den Schulterblättern und dem luxierten Gelenk nahe der Liegenkante gelagert, um dann durch Abduktion und Traktion am Arm oder Druck auf die Schulter des Patienten das Schlüsselbeinköpfchen in die sternale Gelenkgrube zu reponieren. Für die Reposition ist ggf. der manuelle Zug am Schlüsselbein oder an einem eingeschraubten Instrument erforderlich. Abschließend wird die Schulter mit einem Rucksackverband für mindestens 6 Wochen ruhiggestellt.
In den seltensten Fällen ist auch ein chirurgisches Vorgehen mit Rekonstruktion des Kapselbandapparates, insbesondere nach mehrfachen Luxationen, erforderlich.

Fall Nr. 35

    Heilkunde für einen Bruch seines Schlüsselbeins:

    Wenn Du untersuchst einen Mann mit einem Bruch seines Schlüsselbeins und Du findest sein Schlüsselbein verkürzt und verschoben gegeneinander.

    Dann mußt Du sagen dazu: Einer mit einem Bruch seines Schlüsselbeins; eine Krankheit, die ich behandele.

    Dann mußt Du ihn in Rückenlage hinlegen und gewickeltes Zeug geben zwischen seine beiden Schulterblätter. Dann sollst Du ausspreizen seine beiden Schultern, so daß ausgestreckt sind seine beiden Schlüsselbeine und jener Bruch fällt an seine (richtige) Stelle. Dann mußt Du machen für ihn zwei Polster aus Stoff; dann mußt Du legen eines von ihnen an die Innenseite des Oberarms, das andere an die Unterseite des Oberarms. Dann sollst Du ihn verbinden mit Verbandszeug. Du mögest ihn anschließend behandeln mit Honig jeden Tag, bis es ihm besser geht.

 

Auch nach über 3000 Jahren hat sich an der klinischen Symptomatik und der Therapie der Schlüsselbeinfraktur wenig geändert. Auszug aus: Häring/Zilch “Chirurgie”, 4. Auflage, deGruyter-Verlag 1997, Kapitel 5.1.1. “Skapula- und Klavikulafraktur”:

    Klavikulafraktur
    Eine der häufigsten Frakturen, besonders im Jugendalter.
    Pathogenese: Ein Sturz auf die Schulter oder die extendierte Hand führt zum Biegungsbruch im mittleren Drittel (indirekte Gewalt), Bruch im lateralen Drittel meist durch direkte Gewalt.
    Diagnose: Tastbare Unterbrechung der Klavikula. Fehlstellung der Fragmente: Das mediale Fragment steht durch Zug des M. sternocleidomastoideus nach kranial, das laterale durch das Armgewicht nach kaudal, häufig mit Verkürzung. (Abb. 44.5-2). Schmerzhafte Bewegungseinschränkung. Röntgenaufnahme in 2 Ebenen. Überprüfung des Pulses, der Sensibilität und Motorik!
    Therapie: Domäne der konservativen Behandlung. U.U. Reposition in Lokalanästhesie, Retention mit Rucksackverband (Abb. 44.5-3) durch Zug nach hinten für 3-4 Wochen. ...

Der ägyptische Arzt kannte den redressierenden Rucksackverband noch nicht. Jedoch hatte er offensichtlich die zugrundeliegende Biomechanik begriffen, daß eine Schlüsselbeinfraktur durch Zug und Spannung zu reponieren und ruhigzustellen ist. Die Schulter muß dazu nach außen und hinten geführt und ihr Herabsinken verhindert werden.

Diese Bedingungen wurden durch die Anwendung von Polstern und Verbänden nach dem Hebelprinzip erfüllt. Wie beim Desault-Verband, der heutzutage u.a. zur konservativen Therapie der subcapitalen Humerusfraktur (s. Fall Nr. 36) eingesetzt wird, wurde ein Stoffpolster in der Achselhöhle plaziert, welches als Hebeldrehpunkt diente, um die Schulter nach außen zu strecken. Das Polster am distalen Oberarm wurde vermutlich ventral angebracht, so daß es den Oberarm nach hinten drängte und dadurch die Rückführung der Schulter verstärkte. Abschließend wurde der Arm notwendigerweise abgewinkelt vor dem Bauch mit Verbandmaterial fixiert; gleichzeitig führte die straffe Wicklung des Verbandstoffs, welche Unterarm und Ellenbogen sicherlich einschließen mußte, zu einer Anhebung und somit Entlastung des Oberarms und der Schulter.

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